Jerusalem (Teil 3) – Siedler und wie ich protestierte

12 01 2012

“Es ist nicht Palästina, das die Zwei-Staaten-Lösung nicht will, sondern Israel”. Nachdem ich den anfänglichen Schock über diese Aussage unserer Guides überwunden hatte, wurde sie zu einem Aha-Erlebnis. Irgendwie passt jetzt alles viel besser zusammen! In unseren Medien wird uns immer suggeriert, dass es die Palästinenser sind, die die Zwei-Staaten-Lösung verhindern, vor allem weil sie Israel partout nicht anerkennen wollen (was nicht stimmt, die PLO – unter Jassir Arafat – hat Israel schon 1993 anerkannt), aber Israel ist das Land, das sich ständig über Vereinbarungen (z.B. den Siedlungsbau betreffend) hinwegsetzt.

Wie schon im letzten Artikel geschrieben, ist die Westbank in drei Zonen unterteilt, von denen die größte die unter israelischer Kontrolle stehende Zone C ist. In diese Zone haben die Palästinenser keinen oder nur eingeschränkt Zugang.

Die folgenden Karten zeigen, wie sich das Land der Palästinenser im Laufe der Zeit verkleinert hat und dass es heute nur noch aus einem relativ unzusammenhängenden Gebiet besteht.

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Nochmal kurz zur Erinnerung: Israel wurde 1948 gegründet, die erste Karte zeigt das Gebiet also vor der Gründung. Die zweite zeigt den UN-Teilungsplan (steht ja auch da Zwinkerndes Smiley). Was übrig blieb, nachdem mehrere arabische Staaten Israel direkt nach seiner Gründung angriffen, sieht man auf der dritten Karte. Dann kam der Krieg von 1967, bei dem Israel die gesamte Westbank besetzte. Erst 1993 begann der Aufteilungsprozess (Oslo-Abkommen), dessen heutigen Stand man auf der vierten Karte sieht (da die Palästinenser keinen oder nur eingeschränkten Zugang zur Zone C haben, wird sie auf dieser Karte als zu Israel gehörig eingezeichnet, deshalb ist die Westbank hier so zerstückelt).

Das Land der Palästinenser schrumpft und schrumpft also und so ist es kein Wunder, dass sie fürchten, es komplett zu verlieren. Im Übrigen fordern die Palästinenser bei den Verhandlungen immer nur ihr Land in den Grenzen von vor ‘67 zurück (dritte Karte).

Wie auch schon im letzten Bericht erwähnt, sind die Siedler ein großes Thema (als Mittel zum Landgewinn), so dass ich jetzt ein bisschen über sie schreiben will. Zunächst: Als Siedler werden diejenigen Israelis bezeichnet, die in der Westbank (den Gaza-Streifen lasse ich weiterhin außen vor) in Gruppen, also in Siedlungen wohnen. Es lassen sich zwei Gruppen von Siedlern unterscheiden: die Religiösen und die, die aus finanziellen Gründen siedeln.

Die religiösen Siedler sind der Ansicht, dass auch die Westbank den Juden gehört, denn Gott hat ihnen dieses Land versprochen. Er hat Abraham und seinen Nachfolgern dieses Land gegeben und nirgendwo war die Rede davon, dass man es mit Palästinensern teilen müsse, also ist es jüdisches Land und man muss es besiedeln. Viele dieser Siedler kommen aus USA, speziell aus Brooklyn und haben vorher nicht in Israel gewohnt. Sie ziehen sofort in die Siedlungen.

Was ich übrigens sehr lustig fand, apropos Land besiedeln: Gott hat Abraham das Land gegeben und gesagt, er soll es mit Menschen füllen – deshalb bekommen orthodoxe Juden so viele Kinder!! Sie bemühen sich immer noch, das Land zu füllen! Ich muss gestehen, ich habe mich kaputt gelacht als ich das gehört hab.

Die zweite Siedler-Gruppe besteht aus Israelis, die aus finanziellen Gründen siedeln. Der israelische Staat unterstützt sie finanziell (ich weiß nicht genau wie, ich glaube unter anderem durch Steuererleichterungen) und zudem kostet eine Wohnung in einer Siedlung viel weniger als sie in Israel kosten würde. In Jerusalem zahlt man für eine Wohnung in einer Siedlung etwa ein Viertel dessen, was sie in anderen Teilen der Stadt kosten würde.

Ob der Anteil der religiösen oder der “Wirtschaftssiedler” größer ist, hängt von der jeweiligen Siedlung ab.

Es gibt auch zwei Arten von Siedlungen: Auf der einen Seite die, die speziell für die Siedler errichtet werden (sah man ja auf dem einen Foto, das ich vom Flüchtlingslager aus gemacht habe, wo man rechts die fein säuberlich angeordneten Häuser der Siedlung sah). Dann gibt es aber auch Siedler, die in palästinensische Häuser reingesetzt werden. Soweit ich verstanden habe, gibt es auch hier wieder zwei Fälle:

Nach der Aufteilung des Gebiets gemäß dem UN-Teilungsplan mussten einige Juden Palästina verlassen und ihre Häuser dort zurücklassen. In diese sind Palästinenser gezogen, die dort seit mittlerweile über 60 Jahren wohnen. Da die Häuser aber ursprünglich mal Juden gehört haben, werden sie jetzt zurück gefordert – in den aller seltensten Fällen von den Besitzern selbst. Die Palästinenser werden rausgeworfen und es ziehen jüdische Siedler ein. (Es ist natürlich klar, dass Palästinenser im Gegenzug nicht ihre Häuser zurück fordern können, die auf israelischem Terrain liegen.) Wie das im einzelnen funktioniert, in wie weit der israelische Staat das fördert oder nur duldet, muss ich noch rausfinden.

Der andere Fall hängt mit dem illegalen Häuserbau zusammen: Die palästinensische Bevölkerung wächst und braucht demzufolge mehr Wohnfläche. Um bauen zu können, müssen sie aber die Genehmigung der israelischen Behörden haben. Die Bearbeitung einer solchen Genehmigung dauert mehrere Jahre und wird dann nur selten positiv beschieden. Tatsächlich gewährt werden Baugenehmigungen nur im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Da die Palästinenser aber Platz zum wohnen brauchen, bauen sie trotzdem, was von den Israelis dann als illegaler Häuserbau gesehen wird. Solche Häuser werden entweder abgerissen (die bekannten “house demolitions”) oder es werden Siedler hineingesetzt.

Kleiner Einschub: Im Fall des Abrisses werden rund 12.000€ fällig, die der palästinensische Hausbesitzer zu tragen hat. Das heißt: eine palästinensische Familie wächst und braucht mehr Wohnfläche. Da die Wahrscheinlichkeit, eine Baugenehmigung zu bekommen, sehr gering und mit viel Warterei verbunden ist, bemühen sie sich wahrscheinlich gar nicht erst, sondern bauen einfach, denn irgendwo müssen sie ja wohnen, das heißt sie investieren Geld. Dann kommt mit ein wenig Pech der israelische Staat, reißt das Haus ab und die dort lebenden Leute stehen nicht nur ohne Zuhause da, sondern haben darüber hinaus noch um die 12.000€ Schulden, weil sie den Abriss selbst bezahlen müssen.

Zurück zu den Siedlern: Ein in Jerusalem bekannter Fall ist der von Sheikh Jarrah, nur etwa zehn Autominuten von der Altstadt entfernt (natürlich in Ost-Jerusalem). Es gibt Pläne einer Siedlungsorganisation, dieses palästinensische Viertel komplett zu zerstören und eine Siedlung mit 200 Häusern dort entstehen zu lassen. Im Moment konzentriert sich die Aufmerksamkeit vor allem auf einen Fall: Eine Familie, die wir im Rahmen der politischen Tour durch Jerusalem besucht haben, lebte dort in einem kleinen Häuschen und als es zu eng wurde, haben sie nach vorne angebaut. Ohne Genehmigung, also illegal. Seit einiger Zeit leben im vorderen Teil nun vier jugendliche Siedler, alle um die 20, die sich nicht gerade gut in die Gemeinschaft integrieren, um es mal so zu sagen. Sie bespucken die Kinder der Nachbarschaft oder verkloppen sie, wie mir unter anderem unser Guide erzählte, der es selbst gesehen (und sich eingemischt) hat.

Aber nicht genug damit, sondern jetzt soll diese Familie, die nur noch im hinteren Teil ihres Hauses wohnen dürfen, entweder Miete an die Siedler zahlen oder sie werden zwangsgeräumt. Diese Räumung steht in den nächsten Tagen an.

Hier ein Foto des vorderen Hausteils, in dem jetzt die Siedler wohnen – wie mein Bruder schon feststellte ist das ja auch nicht gerade ein Ort, an dem man uuuunbedingt leben will…

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Dem gegenüber liegt ein Haus, das bereits zwangsgeräumt wurde. Dort lebt nun eine jüdische Familie aus Brooklyn. Die palästinensische Familie lebte fünf Monate in Zelten auf der Straße vor ihrem eigenen Haus. Aus Angst, ihre Ansprüche auf das Haus vollends zu verlieren, haben sie sich nicht bei den Strom- und Wassergesellschaften abgemeldet, um mit den Rechnungen vielleicht irgendwann einmal nachweisen zu können, dass es sich um ihr Eigentum handelt. Das heißt die aus ihrem Haus geworfenen Palästinenser zahlen jetzt Strom und Wasser für die jüdischen Siedler. Verrückt.

Was, wie ich finde, auch viel aussagt über die Siedler und ihre Einstellung, ist dass sie ihre Häuser mit israelischen Flaggen schmücken, so dass auch jeder sehen kann, dass hier Juden wohnen – provokativer geht’s wohl kaum.

Die meisten Siedler bleiben übrigens nur etwa für sechs Monate in solchen Häusern, dann werden sie von der Siedlerorganisation ausgetauscht, weil es ja nicht gerade ein Honigschlecken ist, da so im Feindesland zu wohnen. Warum sie es trotzdem tun? Selbstloser Dienst am eigenen Land.

Wie gesagt hat uns unsere politische Tour nach Sheikh Jarrah geführt. Unser Guide hat uns eine alte Frau der Familie vorgestellt, die, wie ich annehme, das weibliche Familienoberhaupt war. Wir hätten sie auch etwas fragen können, aber wir waren alle so sprachlos… Was soll man da noch fragen? Und so haben wir die arme Frau nur betroffen angeschwiegen bis zum Glück eine aus der Gruppe auf die Idee kam, wenigstens unsere Anteilnahme auszudrücken.

Ein paar Tage später habe ich Tali zum ersten Mal getroffen, bei der ich gecouchsurft hab. Es stellte sich heraus, dass sie am nächsten Tag zu einer Demo gegen die Siedlungen in Sheikh Jarrah, speziell gegen die Zwangsräumung dieses einen Hauses gehen wollte, die vor allem von israelischen Aktivisten organisiert wurde (es sind ja nicht alle Israelis rechte Extremisten…). Und ich durfte mit Smiley.

Natürlich bin ich nicht blauäugig zur ersten Demo gerannt, die mir begegnete, sondern hab mich vorher lange mit Tali darüber unterhalten, bis ich den Eindruck hatte, sie weiß, was sie tut und geht kein zu großes Risiko ein. So sagte sie mir zum Beispiel, dass sie immer darauf achtet, dass die Demos angemeldet sind, damit “Aufpasser” dabei sind, die die Demonstranten im Notfall schützen können. Wieso das nötig ist, wurde mir erst klar, als ich selber mitgegangen bin…

Wir sind in West-Jerusalem losgelaufen, über ein paar Einkaufsstraßen bis zum Beginn der Altstadt, dann (von außen) an einer großen Straße an der Altstadt-Mauer entlang bis nach Ost-Jerusalem und Sheikh Jarrah. Die Plakate forderten “Stop Occupation”, “Free Sheikh Jarrah” oder auch “Eree Palestine”. Mit lautem Getrommel, ein paar Trillerpfeifen und Slogans auf Hebräisch (und womöglich auch auf Arabisch) ging’s los:

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Schon auf den ersten hundert Metern wurde mir klar, dass das hier irgendwie was anderes ist als zum Beispiel in Aachen gegen Nazis zu protestieren. Da geht man ja null Risiko ein und trifft auf keinerlei Widerstand. Anders bei dieser Demo: ich war nicht gefasst auf soviel Aggression seitens der Israelis! Schon nach etwa 50 Metern lief ein vielleicht 60-jähriger Mann mitten durch die Demonstranten, rempelte sie an und schlug die Plakate runter (beeindruckt hat mich, dass keiner von den Teilnehmern in irgendeiner Weise aggressiv reagiert hat, die Betroffenen haben ihre Plakate aufgehoben und ihn keines Blickes gewürdigt – wow). Andere Passanten zeigten Mittelfinger oder brüllten uns irgendwas entgegen, meist auf hebräisch, so dass ich es nicht verstehen konnte. Viele waren wirklich außer sich vor Empörung und einer schrie “don’t fuck with the arabs!!” Wie Tali mir später sagte, war das auch einer der Sätze, der auf hebräisch sehr oft fiel.

Wieder einige Meter weiter griff ein Passant einen der Demonstranten an und wollte ihn schlagen, aber da griff dann zum Glück einer der Aufpasser ein (da wusste ich dann wofür sie gut waren, auch wenn ich fand, sie hätten etwas zahlreicher erscheinen können…).

Wieder ein Stück weiter kam ein Stein geflogen. Ich glaube, ich war die einzige, die etwas Angst hatte, alle anderen waren es ja schon gewohnt: die verbalen Aggressionen, aber auch mit Eiern oder Wasser beworfen zu werden. Aber vor den Steinen hatte ich echt Angst – zum Glück blieb es bei einem.

Es war wirklich etwas gruselig so durch West-Jerusalem zu laufen. Viele Autofahrer brüllten etwas aus dem Fenster (und zeigten Mittelfinger) und wenn wir eine Straße überquerten, rechnete ich immer halb damit, dass einer einfach Gas geben und uns platt fahren würde. Ich musste auch daran denken, wie viele Israelis Zugang zu einer Waffe haben und dass ein Bekloppter reichen würde, der sie einfach mal benutzen würde. Aber zum Glück ist nichts passiert.

Ich kann mich nur an eine positive Reaktion in West-Jerusalem erinnern und die stammte von einer Autofahrerin, die im Rhythmus unserer Trommeln ihre Hupe betätigte.

Während dieser Demo habe ich mich eher als Außenstehende gesehen, als Art Zuschauerin, denn ich war das erste Mal dabei, während alle anderen meist wöchentlich für Sheikh Jarrah protestieren. Was für ein Mut, echt!!!! Ich muss gestehen, ich weiß nicht, ob ich jede Woche mitgehen würde, denn schön war es wirklich nicht und der Gedanke, irgendwann doch einen Stein an den Kopf zu bekommen…… hmmm…. Ich habe einen riesigen Respekt vor diesen Jungs und Mädels, die sich wöchentlich dem Hass ihrer eigenen Bevölkerung aussetzen, um die Palästinenser zu unterstützen!

Als wir an der Altstadt-Mauer ankamen, entspannte sich die Situation etwas und es wurden sogar zwei Palästina-Flaggen ausgepackt. In West-Jerusalem wär das zu viel des Guten gewesen, wie mir Tali erklärte. Als ich sie fragte, was denn da handgeschrieben auf einer der Flaggen stünde, sagte sie mir, das heiße “Intifada” auf Arabisch und sie sagte mir, dass sie mit einem der Demonstranten darüber diskutiert habe, ob das denn wirklich sein muss, denn schließlich war die Intifada gewaltsam, worauf er sagte, es sei eben die einzige Möglichkeit der Palästinenser sich zu wehren. Und so ist auch diese Gruppierung nicht wirklich geeint: manche sind radikaler als andere, aber am Ende laufen sie eben doch zusammen, weil sie das gleiche Ziel haben.

Der Junge mit der Fahne ist sozusagen das Symbol der Proteste. Er ist zehn Jahre alt, wohnt in Sheikh Jarrah und übernimmt die Aufgabe, die sonst keiner wirklich gerne hat: Er ist der “Vorbrüller” der Slogans, die ihm dann alle nachbrüllen. Und er macht seine Sache richtig gut!

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Je weiter wir nach Ost-Jerusalem rein kamen, desto weniger Israelis gab es natürlich, die uns beschimpfen konnten. Statt dessen sah man öfter mal lächelnde palästinensische Gesichter oder erhobene Daumen. Aber ich muss sagen, ich war erstaunt, wie oft man auch in ausdruckslose Gesichter kuckte. Ob sie resigniert haben und finden, dass es nichts bringt? Oder ob sie es Israelis nicht abnehmen, wenn sie für Palästina protestieren? Dass nämlich nicht alle Palästinenser von Israelis begeistert sind, die ihre Partei ergreifen, habe ich auch noch später im Flüchtlingslager festgestellt, aber dazu später.

In Sheikh Jarrah angekommen, blieben Tali und ich zurück, um uns mit jemandem zu unterhalten, während die Gruppe schon die Straße zum besetzten Haus runterlief. Als wir endlich unten ankamen, sahen wir einen fetten Siedler (er war wirklich richtig fett) mit einer Wunde unter dem rechten Auge, aus der ziemlich viel Blut auf sein Hemd tropfte. Er war mit seinem Hund aus dem Haus gekommen. Manche der Demonstranten sagten, er habe den Hund auf eins der Kinder hetzen wollen (die, die auch bespuckt werden), andere sagen, er wollte sie mit dem Hund nur erschrecken. Jedenfalls hat ein Kind einen Stein genommen und ihn dem Siedler ins Gesicht geworfen. Ich muss ja wohl nicht dazu sagen, dass ich Steine werfen nicht als die richtige Art des Protests sehe, aber beim Anblick des Typen, der keinerlei Anstalten machte, sich das Blut abzuwischen, sondern damit munter in alle Kameras poste (ich bin mir nicht sicher, ob auch Presse da war, aber ganz vorne war einer mit einer grooooßen Kamera), hätte ich fast gekotzt. Dann kam die Polizei – lange vor dem Krankenwagen, denn man muss ja Prioritäten setzen. Bis dahin waren die Kinder verschwunden. Ihr Glück, denn die israelische Polizei hat kein Problem damit, Zehnjährige festzunehmen – solange sie Palästinenser sind.

 

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Hier noch ein Link zu einem sehr guten und dabei relativ kurzer Artikel zum Thema Palästina: Selbst die EU merkt jetzt, dass die Chancen für einen palästinensischen Staat schwinden.

http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/eu-on-verge-of-abandoning-hope-for-a-viable-palestinian-state-6288336.html



Jerusalem (Teil 2) – bedrückender Blick hinter die Fassade

9 01 2012

“Die Mauer ist weg!” – Ja, in Deutschland. Hier nicht. Hier steht sie kalt und grau und wächst und wächst.

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Dieser und die folgenden Berichte sind der Versuch, das wichtigste, was ich hier über die politische Situation in Jerusalem gelernt habe, zusammenzufassen (ich weiß jetzt schon, dass ich die Hälfte vergessen werde oder einfach nicht unterbringen kann!). Viele Informationen stammen aus einer der politischen Touren, die mein Bruder und ich gemacht haben (www.alternativetours.ps – sehr empfehlenswert!!). Sehr viel habe ich aber auch durch Tali erfahren, ein tolles Mädel, bei der ich gecouchsurft habe. Sie ist in Jerusalem geboren und aufgewachsen, ihr Großvater hat den Holocaust überlebt und sie hat ihren Militärdienst abgeleistet – ein hier wahrscheinlich recht normales Leben also. Aber sie steht politisch links, engagiert sich und hat palästinensische Freunde, womit sie zu einer Minderheit in ihrem Land wird. Ebenso wie ich versucht sie unemotional an das Thema heranzugehen, beide Seiten zu verstehen und sieht die Kommunikation zwischen beiden Völkern als einen wichtigen Weg zum Frieden.

Die Tage mit ihr haben mich sehr, sehr bereichert, nicht nur wegen unserer stundenlangen und extrem lehrreichen Gespräche über die hiesige Politik und Geschichte, sondern auch weil ich sie auf eine Demo gegen Siedlungsbau begleiten konnte, weil ich ihren politisch rechts stehenden Cousin kennengelernt und mich mit ihm unterhalten habe und weil sie mir zu einem Besuch in einem Flüchtlingslager verholfen hat. Einer von Talis Freunden, mit dem wir auch Silvester unterwegs waren, wohnt in Shuafat, einem großen Flüchtlingslager nur 15 Minuten von Jerusalem entfernt und hat uns dorthin eingeladen. Aus all diesen Infos und Eindrücken versuche ich also jetzt, einen oder mehrere Artikel für euch zu basteln… Ich wünsche mir viel Erfolg und Geduld dabei Zwinkerndes Smiley

Beginnen wir mit Grundlegendem (wer im vorigen Artikel aufgepasst hat, weiß das schon): Bis 1967 war Jerusalem eine geteilte Stadt. West-Jerusalem gehörte zu Israel, Ost-Jerusalem war Teil des palästinensischen Gebiets. Wie ihr gelernt habt, wenn ihr aufmerksam mitgelesen habt, ist der Tempelberg sowohl für den jüdischen als auch für den muslimischen Glauben zentral. Vor 1967 durften die Juden aber nicht an ihre Klagemauer ran, da sie zum Ostteil der Stadt gehörte, was sie – platt gesprochen und verständlicherweise – doof fanden. Die Freude war also groß, als sie 1967 die Westbank besetzten und Ost-Jerusalem eroberten, denn so hatten sie endlich wieder Zugang zu ihrer heiligen Stätte. Und damit ihnen die Moslems so schnell nicht mehr in die Quere kommen konnten, fegten sie einfach alle vom Platz, indem sie ihre Häuser in den Boden stampften und ihre Bewohner unter anderem in Flüchtlingslager außerhalb der Altstadt schickten. Den Israelis sei dank erfreuen die Touris (und die Israelis selbst) sich jetzt an diesem tollen leeren Platz vor der Klagemauer. Ist das nicht schön?

Aus israelischer Sicht ist Jerusalem also nun geeint und gehört, ebenso wie die gesamte Westbank, zu Israel. Logisch wäre es, wenn die dort lebenden Menschen nun die israelische Staatsangehörigkeit bekämen – ist aber nicht so. Das Aufenthaltsrecht oder gar die Staatsangehörigkeit der Palästinenser ist ein Riesen-Thema. So weit ich verstanden habe, wurde den in der Westbank lebenden Palästinensern nie die israelische Staatsangehörigkeit angeboten. Sie sind also Angehörige eines Landes, das aus israelischer Sicht nicht existiert. Großzügigerweise bekommen sie aber eine Aufenthaltserlaubnis und werden mit “travel documents” ausgestatten, die bei Reisen den Pass ersetzen und von den israelischen Behörden ausgestellt werden.

Den Palästinensern in Ostjerusalem hingegen wurde die Staatsangehörigkeit angeboten, allerdings haben nur sehr wenige dieses Angebot angenommen. Der Grund: Wenn sie Israelis werden, gibt es offiziell bald keine Palästinenser mehr in Ost-Jerusalem. Wenn die Palästinenser dann fordern, Ost-Jerusalem solle wieder an sie zurück gegeben werden, könnten die Israelis einfach sagen: Aber da leben doch nur Israelis, warum sollte Ost-Jerusalem palästinensisch werden? Und so leben die Palästinenser in Ost-Jerusalem größtenteils nur mit Aufenthaltsgenehmigung.

Offiziell sieht Israel Jerusalem als eine geeinte Stadt an. Faktisch wird jedoch stark getrennt: Obwohl die Ost-Jerusalemer Bevölkerung die gleichen Steuern zahlt wie die im Westen lebenden Israelis, erhalten sie nicht die gleichen Leistungen: so wird zum Beispiel der Müll weniger oder zum Teil gar nicht abgeholt (was Außenstehende schnell in ihrem Vorurteil bestärkt, dass Araber dreckig seien – klar, wenn ihr Müll nicht abgeholt wird und ihre Straßen nicht so gereinigt werden wie die der Israelis!). Außerdem gibt es viel zu wenig Schulen für die arabischen Kinder, was zu viel zu großen Klassen führt und dazu, dass Kinder erst gar nicht in die Schule gehen können.

Kurz: die Lebensbedingungen für die ost-jerusalemer Palästinenser sind denkbar schlecht. Fragt man die Palästinenser, ist das Teil des israelischen Plans, die Palästinenser aus Jerusalem zu verdrängen. Was sich zunächst anhört wie eine Verschwörungstheorie, wird plausibel, wenn man zum Beispiel folgendes erfährt:

Palästinenser aus der Westbank dürfen nicht nach Jerusalem ziehen. Sie dürfen Jerusalem (und somit ihre heiligen Stätten!) noch nicht mal besuchen. Wollen sie letzteres doch, müssen sie einen Antrag stellen. Zur Antragstellung (und nur dazu!) sind sie berechtigt, wenn sie älter als 45 Jahre alt sind, politisch nie aufgefallen sind und noch was, was ich vergessen habe. Bewilligt werden diese Anträge jedoch selten.

Möchte ein in Jerusalem lebender Palästinenser (oder eine Palästinenserin) jemanden aus der Westbank heiraten, darf der Partner aus der Westbank nicht nach Jerusalem ziehen. Das Paar muss also entweder eine Fernbeziehung in Kauf nehmen oder gemeinsam in der Westbank wohnen. Lebt die Person, die vorher in Jerusalem lebte, aber länger als sieben Jahre außerhalb der Stadt, wird ihr die Aufenthaltserlaubnis entzogen – sie kann also nicht wieder nach Jerusalem zurück.

Das bedeutet: Zieht eine Familie aufgrund der schlechten Lebensbedingungen aus Jerusalem weg, verliert sie nach sieben Jahren ihr Aufenthaltsrecht dort.

Das ist eine gute Überleitung zur Mauer, die offiziell “Sperranlage” genannt und durch die Notwendigkeit des Schutzes vor Selbstmordattentätern begründet wird. Wie schon erwähnt, verläuft die Mauer fast nirgendwo entlang der offiziellen Grenze von vor 1967, sondern frisst sich meist kilometertief in palästinensisches Gebiet. Das Flüchtlingslager Shuafat sowie zwei angrenzende Dörfer werden beispielsweise komplett von der Mauer umrundet. Eigentlich liegt das Gebiet in Ost-Jerusalem, doch da es jetzt so schön abgeteilt ist, versucht Israel, es aus der Stadt auszugliedern: “So, das ist hinter der Mauer, also gehört es nicht mehr zu Jerusalem. Das heißt ihr wohnt schon mehr als sieben Jahre außerhalb der Stadt – her mit der Aufenthaltserlaubnis, ihr seid jetzt Westbank”.

Praktisch ist so eine Mauer auch, wenn es um Landgewinn geht. Auch das ist in Shuafat gut sichtbar: Dem Flüchtlingslager direkt gegenüber liegt eine israelische Siedlung (auch die sind logischerweise Mittel zum Landgewinn). Das folgende Bild ist von Shuafat aus fotografiert:

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Die schönen ordentlichen Häuschen rechts bilden die israelische Siedlung, die chaotische Betonlawine links ist einer der beiden Orte, der an das Flüchtlingslager grenzt und ebenfalls von der Mauer eingekesselt wird. Zwischen diesem Ort und der jüdischen Siedlung verläuft die Mauer und zwar gaaaaaaanz eng an den palästinensischen Häusern entlang. So bleibt das Gebiet rechts von der Mauer für die Siedlung reserviert, falls sie mal wachsen möchte oder einfach, damit die Juden nicht so nah an den Palästinensern wohnen müssen – ist ja unzumutbar. Und schon wieder: Land gewonnen. So einfach ist das!

Seit die Mauer steht, dürfen die Palästinenser im Ort auch von ihrer Seite nicht mehr zu nah an die Mauer bauen. Tun sie es trotzdem, werden die Häuser abgerissen – auf Kosten der palästinensischen Hauseigentümer, ist klar.

Da die Israelis ja kreativ sind, kann man mit der Mauer aber auch noch anders Land gewinnen: Man baut sie einfach zwischen Palästinenser und ihr Land, auf dem sie beispielsweise Oliven oder Zitronen anpflanzen. Ein Checkpoint dazu – fertig. Jetzt dürfen sie ihr Land nicht mehr betreten und können demnach nicht mehr ernten, neue Bäume pflanzen oder was auch immer. Damit richten Israel nicht nur einen enormen wirtschaftlichen Schaden an, sondern sichert sich auch das Land, denn: vernachlässigt ein Palästinenser sein Land länger als drei Jahre (baut dort nichts mehr an etc.), wird es ihm aberkannt. Es gehört einfach nicht mehr ihm, sondern dem israelischen Staat.

So eine Mauer ist so praktisch, da hätte die DDR noch von den Israelis lernen können! Und so wird sie munter weitergebaut, während die Welt verhältnismäßig stumm zusieht (oder wegsieht).

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Nett finde ich, dass die Mauer so unterschiedlich gestaltet ist – dann wird sie einem nicht so schnell langweilig.

Ich muss sagen, wenn ich an dieser Mauer langfahre, dann kann ich fühlen, wie da etwas in mir aufkeimt und es ist nicht positiv. Konkret: allein der Anblick dieser Mauer schürt Hass, da bin ich mir sicher.

Wie ist das denn jetzt mit der Sicherheit? Haben die Israelis nicht irgendwie recht, wenn sie sagen, sie müssen sich gegen die Selbstmordattentäter schützen? Und immerhin sind die Bombenattentate seit dem Bau der Mauer fast auf Null zurück gegangen. Die Mauer – eine Erfolgsgeschichte? Die andere Sicht der Dinge ist: Ja, es gibt so gut wie keine Selbstmordanschläge mehr seit die Mauer gebaut wurde, was aber daran liegt, dass der Mauerbau mit dem Ende der zweiten Intifada zusammenfällt, in dem die palästinensischen Parteien sich zu einer Beendigung der Attentate verpflichtet haben.

Gestützt wird diese Meinung aus meiner Sicht durch die völlig willkürlichen und laschen Kontrollen an den Checkpoints. Checkpoints? Das hört sich nach millimetergenauen Durchsuchungen von Personen und Fahrzeugen an, nach Ausweiskontrollen und nach Sprengstoffspürhunden.

Die Realität sieht anders aus: Kommt man mit dem Auto aus der Westbank und will nach Jerusalem rein (natürlich nur mit israelischem Nummernschild, die mit palästinensischen müssen es gar nicht erst versuchen, die dürfen hier ja eh nicht hin), wirft der diensthabende, schwer bewaffnete Soldat einen Blick auf den Fahrer. Wie wir im Dritten Reich gelernt haben, kann man Juden und Araber auf 10Km Entfernung unterscheiden – der Soldat weiß also sofort, ob er einen harmlosen Juden oder einen bösartigen Araber vor sich hat. Im ersten Fall signalisiert er mit einem lässigen Kopfnicken, dass man passieren kann. Im zweiten lässt er sich die Papiere zeigen und durchwühlt den Kofferraum. Weiß ja jedes Kind, dass Bomben immer nur im Kofferraum versteckt werden und nirgendwo sonst.

Muss ich dazu sagen, dass ich zwei Mal mit palästinensischen Fahrern den Checkpoint passiert habe und wir kommentarlos durch gewunken wurden? Ganz so einfach ist die Shlomo-Ahmed-Unterscheidung nämlich doch nicht…

Kommt man mit dem Bus (natürlich mit einem palästinensischen, denn israelische Busse gibt es hier nicht), müssen alle Passagiere aussteigen. Das folgende Prozedere unterscheidet sich von Checkpoint zu Checkpoint.

Zwei Mal hatte ich die Ehre den Checkpoint aus Ramallah kommend zu Fuß zu überqueren – was vor allem mit viel Gepäck nicht lustig war. Sobald man aus dem Bus steigt, reiht man sich in die Schlange der Ungeduldigen ein, die vor so einem Drehgitter warten, wie man es zum Beispiel aus Park- oder Freibadausgängen kennt. Leuchtet das Lämpchen grün, darf man durch, aber man muss sich beeilen, den schwupps, erlischt es und das Drehgittert steht still – unter Umständen hat es jemanden gefangen genommen, der weder vor noch zurück kann.

Dann geht es weiter zu einem dieser Detektoren wie am Flughafen, durch die man durchlatschen muss. Piep. Ein Blick auf die genervten Soldaten hinter Panzerglas auf der rechten Seite verrät: ich muss nochmal durch. Piep. Nochmal. Kein Kommentar der (in diesem Fall) Soldatinnen. Nur ein lässiges Kopfrücken signalisiert: nochmal. Dann links das Gepäck in das Röntgending legen. Es klemmt? Dein Problem. Musste halt so lange kramen, bis das Zeug durchgeht. Hinter einem die Schlange der Ungeduldigen. Die Soldaten haben ein Mikro, durch das sie trotz Panzerglas mit einem sprechen können. KönnTTTen! Denn um es zu aktivieren, muss man einen Knopf drücken, will heißen: einen Finger bewegen – Gott, ist das anstrengend. Kommuniziert wird daher überwiegend per genervter Zeichensprache. Nicht schön.

Dann noch den Pass zeigen, inklusive Foto-Seite und Einreisestempel. Ein gelangweiltes Kopfnicken und man darf durch ein zweites Gitter wieder raus.

Als ich aber zum Beispiel aus Bethlehem kam, war es anders: Wieder mussten wir alle aussteigen, der Bus fuhr etwa 15 Meter weiter, während wir etwa 10 oder 15 Minuten in einer Schlange daneben standen. Ich nehme an, dass der Bus in der Zeit von Soldaten (ohne Hunde) untersucht wurde. Danach durften wir alle wieder einsteigen, nachdem wir den zwei Soldaten vor der Bustür unsere Pässe unter die Nase gehalten haben (nur den geschlossenen Pass, nicht etwa unser Foto oder so).

“Aaaaah! Chilena! Como estás?” fragt mich einer der Soldaten nach einem Blick auf meinen Pass, ein Peruaner, wie sich rausstellt, und ich bin etwas erstaunt. Wir smalltalken ein paar Sätze per Du, während die restlichen Busreisenden mehr oder wenig geduldig Schlange stehen.

Im Übrigen zahlt man den Bus nur bis zum Checkpoint und zahlt dann nochmal bis Jerusalem für den (nicht unwahrscheinlichen) Fall, dass man zu lange dort braucht und der Bus ohne einen weiterfährt. Ist mir beim zweiten Mal auch glatt passiert.

Und die Moral von der Geschicht’ (auch wenn es sich nicht reimt): Mit den Kontrollen machen sie vielleicht einen Glücksgriff, wenn sie einen Selbstmordattentäter aufhalten wollen. Von systematischer Kontrolle ist das aber meilenweit entfernt – das “Sicherheit durch Mauer”-Argument hat keine Grundlage. Statt dessen sind die Checkpoints eine schöne Gelegenheit zu demonstrieren, wer denn hier der Herr ist. 18jährige wehrdienstleistende, Kaugummi-kauende, durchgestylte Soldaten und Soldatinnen entscheiden hier, wer durchsucht wird oder nicht, wer durchkommt oder Probleme kriegt. Demütigend.

Krass war für mich folgendes Mini-Erlebnis: Ich stand da so am Checkpoint in der Schlange und wartete darauf, dass das Lämpchen wieder auf grün springt. Währenddessen fährt ein kleiner Bus von hinten an den Checkpoint ran – normal. Der Soldat macht ein kurzes Handzeichen, dass der Bus warten soll, aber anscheinend hat der Fahrer es nicht sofort geschnallt und innerhalb einer Sekunde hat der Soldat die Waffe oben, den einen Finger am Abzug und die Hand am (wie ich annehme) Entsicherungshebel. Hilfe! Und so ging er dann auf den Bus zu, der aber schon längst stehengeblieben war und dessen Busfahrer wirklich nichts Böses im Sinn hatte. Ich fand’s krass, wie schnell der Soldat die Waffe oben hatte und sah mich schon Augenzeugin einer Erschießung werden :-/ Das blieb uns allen aber zum Glück erspart.

Ach ja, noch eine interessante Info zum Themen-Abschluss: Der internationale Gerichtshof in Den Haag hat die Mauer schon 2004 als völkerrechtswidrig und somit illegal erklärt. Wen interessiert’s? Israel jedenfalls nicht.