Wie schon geschrieben, habe ich über Tali jemanden kennengelernt, der im Flüchtlingslager Shuafat wohnt und mich und Tali dorthin eingeladen hat. Es liegt etwa 15 Bus-Minuten von Ost-Jerusalem entfernt, ist das einzige Flüchtlingslager innerhalb Jerusalems und wird zusammen mit zwei angrenzenden Dörfern komplett von einer Mauer eingekreist. Für das große Gebiet gibt es sage und schreibe zwei Checkpoints, die als Ein- und Ausgang dienen.
Wenn man im Zusammenhang mit Palästina von Flüchtlingen spricht, sind zwei Gruppen gemeint: Als das Land 1948 aufgeteilt wurde, mussten viele Palästinenser ihr in Jetzt-Israel liegendes Zuhause verlassen und in das Gebiet ziehen, das den Palästinensern zugewiesen worden war. Das sind die Flüchtlinge von ‘48. Dann sind da noch die Flüchtlinge von ‘67, als Israel Ost-Jerusalem und die Westbank besetzte. Sie stammen zum Beispiel aus der Ost-Jerusalemer Altstadt nahe der Klagemauer. Wie ich ja schon an anderer Stelle geschrieben habe, war der Platz vor der Klagemauer besiedelt und wurde nach der Eroberung angeblich aus Sicherheitsgründen geräumt. Seine Bewohner wurden in Flüchtlingslager verfrachtet.
In Shuafat leben Flüchtlinge von ‘48 und ‘67. Manche gehören auch beide Gruppen an, wie die Großmutter von Talis Freund. Sie kam ‘48 nach Ost-Jerusalem in die Altstadt und wurde ‘67 auch von dort vertrieben.
Nach vier ein halb Jahrzehnten ist das Flüchtlingslager heute weit von einer provisorischen Zeltstadt entfernt, wie man sie sich vielleicht vorstellen mag, wenn man den Begriff “Flüchtlingslager” hört. Stattdessen finden sich dort dicht gedrängt mehrstöckige Wohnhäuser sowie asphaltierte Straßen.
Hier ein Bild von Shuafat (von der jüdischen Siedlung gegenüber aus fotografiert):
Ein Problem, das man auf dem Foto gut sieht, ist der Müll. Im Flüchtlingslager kümmert sich nicht etwa die (israelische) jerusalemer Stadtverwaltung um die Müllabholung, sondern eine Unterorganisation der UNO. Warum die das aber offensichtlich nicht richtig hinkriegen, verstehe ich auch nicht.
Es ist leicht zu erkennen, dass der mangelnder Platz ein großes Problem ist. Durch die Mauer können das Lager und seine zwei angrenzenden Dörfer sich nicht mehr ausbreiten und das trotz wachsender Bevölkerung. Zudem werden so gut wie keine Baugenehmigungen erteilt. Was zu nah an der Mauer gebaut wird, wird sowieso abgerissen. Aber da die Leute ja irgendwo hin müssen mir ihren wachsenden Familien, bauen sie trotzdem und zwar nicht nur ein paar kleine Häuschen, sondern mehrstöckige Gebäude wie dieses hier:
Solche Gebäude werden meist von geschäftstüchtigen Investoren gebaut, denn bauen ist hier preiswert und die Nachfrage ist groß, das heißt die Preise steigen. Gutes Geschäft also…
Auch das (sich im Bau befindliche) Haus, auf dem wir da gerade stehen, wird ohne Genehmigung errichtet. Vor einiger Zeit wurden mehrere Häuser in Shuafat demoliert. Diejenigen, die verschont blieben (wie die Familie von Talis Freund), sagen jetzt, dass die Israelis alles demoliert haben, was sie wollten und dass ihnen der Rest egal ist, dass der Rest also stehen bleibt. Ich weiß nicht, ob da nur die Hoffnung spricht oder ob den Israelis jetzt wirklich egal ist, was da hinter diesen Mauern vor sich geht, da sie Shuafat ja sowieso aus Jerusalem ausgliedern wollen.
Während wir mit Talis Freund durch die Straßen laufen, bleibt plötzlich ein Auto stehen und ein junger Mann steigt aus, den Talis Freund wohl kennt. Er sagt uns freundlich aber bestimmt, dass es ihn überhaupt nicht freut, uns hier zu sehen; wir (er hielt mich auch für eine Israelin) hätten ja gar keine Ahnung, wie das Leben dort überhaupt sei. – Deshalb bin ich ja hier, antwortet ihm Tali, aber das kann seine Meinung nicht ändern. Er will uns nicht da haben, steigt in sein Auto und fährt weg.
Keiner von uns dreien versteht diese Einstellung. Talis Freund sagt, wenn er auf solche Leute trifft, versucht er sie davon zu überzeugen, dass die Israelis, die auf der palästinensischen Seite stehen, ihnen doch vielleicht helfen können, aber davon wollen sie nichts hören. Es ist seltsam. Da hat man eine so geschwächte Gruppe wie die Palästinenser, die doch über jede Unterstützung froh sein sollten und dann gibt es doch immer wieder welche, die weiter Gräben ziehen. Wozu, wenn man doch das gleiche Ziel verfolgt? Ich sage ja: es ist kompliziert…
Die Probleme in Shuafat sind wohl vielfältig und ein Besuch von ein paar Stunden reicht wohl kaum aus, um sie zu erfassen. Wie Talis Freund uns sagt, spielen Drogen und Kriminalität eine große Rolle. Ein wichtiger Grund dafür ist wohl, dass die Kinder und Jugendlichen hier kaum etwas zu tun haben. Es gibt keine Spielplätze, es gibt keine Einrichtungen, in denen sich Jugendliche aufhalten können usw. Talis Freund und einer seiner Freunde, den ich ebenfalls kennengelernt habe, arbeiten mit Jugendlichen im Camp (immerhin bezahlt von der Jerusalemer Stadtverwaltung!). Sie haben eine Capoeira-Gruppe ins Leben gerufen und wenn ich mich richtig erinnere, auch einen Fußball”verein”. Das ist schön und super und ich bewundere sie für die Arbeit, die sie machen, aber am Ende ist es doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn nur ein Bruchteil der Jugendlichen kann teilnehmen (es sind einfach zu viele) und zudem sind es höchstens ein paar Stunden der gesamten Woche, die die Jugendlichen dort aktiv sind. Aber wie auch immer, es ist wie ein kleiner Lichtblick in der Düsternis.
Talis Freund organisiert seit etwa einem halben Jahr auch regelmäßige Musik-Abende, auf denen arabische und hebräische Musik (live) gespielt wird und die arabischen und israelischen Besucher zum Mitsingen animiert werden. Die Texte werden auf Papier inklusive Übersetzung in die jeweils andere Sprache verteilt und gleichzeitig mit dem Projektor an die Wand geworfen. Ich hatte Glück und es fand solch ein Abend statt, während ich da war und so bin ich mit Tali hingegangen und es war richtig cool! Irgendwann haben alle, alle getanzt und es war einfach super! Bevor es mit dem Singen losging, führten die Jugendlichen der Capoeira-Gruppe ihr Können auf – super!
Ich glaube ja, dass das Initiativen sind, die Hoffnung auf Frieden bringen, denn hier werden Vorurteile abgebaut, es findet Kommunikation zwischen Arabern und Juden statt und man sieht, dass man sich gar nicht hassen muss. Auf der anderen Seite ist klar, dass nur diejenigen Leute zu solchen Veranstaltungen kommen, die sowieso keine großen Vorurteile haben.. Naja, es war jedenfalls super.
An dem Abend war übrigens auch ein junger Palästinenser da, ich schätze mal so Mitte/Ende 20, der tatsächlich tanzte wie eine arabische Bauchtänzerin. Es war so krass!! Leider wurde ihm diese Leidenschaft aber zum Verhängnis, denn seine Familie war not amused über seinen Tanz und seine recht offensichtlichen homosexuellen Neigungen und hat ihn aus der Familie verstoßen. Talis Freund hat ihn an eine Organisation weitervermittelt, die sich um solche Probleme kümmern und erzählte von zwei jungen Arabern, denen das gleiche passiert war. Sie gingen nach Tel Aviv, eine Stadt, die bekannt ist für ihre Offenheit und Toleranz gegenüber Homosexualität, aber dort wurde ihre Herkunft zum Problem: keiner wollte Araber anstellen. Schlussendlich sind beide in der Prostitution gelandet.
Zurück zum Flüchtlingslager: Ich habe nicht viele Fotos gemacht, weil ich mir etwas blöd dabei vorkam.. Aber gleichzeitig wollte ich welche machen, um sie euch zu zeigen, hier also die magere Ausbeute:
Das rosa Häuschen ganz vorne existierte schon vor dem Mauerbau und darf großzügigerweise deshalb dort stehen bleiben. Ein Stück dahinter sieht man ein halb fertiges Haus. Es wurde nach dem Mauerbau begonnen – zu nah an der Mauer, wie die Israelis sagten, so dass es sowieso abgerissen werden würde, worauf der Bau eingestellt wurde.
Und gegenüber des Betonchaos’ die schöne idyllische jüdische Siedlung mit viel Platz drum herum:
Ich nehme an, dieser Anblick schafft auch nicht gerade friedvolle Gefühle in den Bewohnern des Flüchtlingscamps… Aber vielleicht sind sie es auch schon so gewohnt, dass sie es gar nicht mehr sehen, wer weiß..
Talis Freund nahm und mit zu seiner Oma, eine liebe, alt aussehende Frau, die so viel im Leben mitgemacht hat wie wahrscheinlich keiner von uns jemals mitmachen wird. Wie schon gesagt, gehört sie zu den Flüchtlingen von ‘48 und ‘67 und lebt seit Jahrzehnten im Flüchtlingslager, wo sie ihre Kinder und Enkelkinder hat aufwachsen sehen. Die Kommunikation war etwas mühsam und fast lustig, da sie nur arabisch sprach, was Talis Freund für letztere ins Hebräische übersetzte, da er kein Englisch spricht, woraufhin Tali es mir dann auf Englisch erklärte. Und wenn ich eine Frage hatte: alles wieder zurück. Daher bin ich mir bei manchen Worten im Folgenden nicht ganz sicher.
Seine Oma erzählte, dass während der ersten Intifada einer ihrer Söhne im Wohnzimmer am Fenster stand, als er plötzlich von einem Schuss kurz unter dem rechten Auge getroffen wurde, das er in der Folge verlor. Wie sie uns sagte, war es offensichtlich, dass der Schuss aus der Waffe eines israelischen Soldaten stammte (außer Steinen hatten die Palästinenser ja gar keine Waffen), aber obwohl die Familie vor Gericht zog, bekam sie nie eine Entschädigung oder ähnliches, sondern musste auch noch die Gerichtskosten tragen.
Dann erzählte sie uns von ihrem kleinen Sohn, der krank war und sich ständig übergeben musste, so dass sie ihn ins Kinderkrankenhaus Shuafats brachte. Dort wurde ihr gesagt, sie solle ihn über Nacht dort lassen und am nächsten Tag abholen. Als sie am nächsten Tag wieder kam, lag das Krankenhaus in Trümmern – eine israelische Bombe war darauf gefallen. Sie suchte ihren Sohn und fand ihn – tot, mit Bomben-/Granat- oder was auch immer für Splittern im Rücken.
Nach dem sehr bedrückenden Gespräch mit ihr gingen wir zu Talis Freund nach Hause, wo seine Frau (und sein sooo süßer dreijähriger Sohn) mit leckerem Essen auf uns warteten. Auch ein paar Freunde und Brüder waren da – habe nie geschnallt, wer zur Großfamilie gehört und wer nicht . Während des Essens fiel plötzlich der Strom aus und wir saßen im Dunkeln, was, wie uns gesagt wurde, etwa zwei, drei Mal die Woche passiert, wenn zu viele Leute auf einmal im Camp Strom ziehen. Im Winter geschieht es aufgrund von Heizgeräten und so weiter häufiger.
Nach dem Essen fuhr uns einer der Freunde, den ich schon auf dem Musik-Abend kennengelernt hatte, nach Hause. Vorher drehten wir aber noch eine Runde durch’s Flüchtlingslager und weiter Probleme wurden deutlich: Es gibt keine Straßenbeleuchtung. “Ach, Details… Wenn das unser einziges Problem wäre..” sagt Talis Freund nur dazu. Für mich als Angsthasen ist es trotzdem wichtig, denn das heißt, dass man da Abends durch stockdustere Gassen laufen muss, was ich nicht lustig fände.
Ist man mit dem Auto unterwegs, stellt man auch fest wie grottig die Straßen sind. Mehr als ein Auto passt nicht durch, das heißt ständig muss einer zurücksetzen, damit der andere durchkommt. Die Straßen sind kaputt, haben zum Teil tiefe Schlaglöcher und sind zudem teilweise auch noch sehr steil. Spaß macht Auto fahren hier bestimmt nicht. Ach ja, Ampeln braucht man hier nicht zu suchen, ist klar, ne?
Kaum sind wir zuhause angekommen, holt uns auch schon Talis Mutter zum all-freitäglichen (Shabbat) Abendessen ab, an dem ich nun schon zum zweiten Mal teilnehmen darf (dazwischen war ich ein paar Tage in Nablus).
Dort treffe ich wieder auf Talis Cousin (etwa in meinem Alter), der wie der größte Teil ihrer Familie rechts steht und den ich schon letztes Mal so gerne zu seiner Meinung interviewt hätte – aber ich hab mich nicht getraut den Familienfrieden zu gefährden! Nach vorheriger Absprache mit Tali, ihrer Schwester und (ebenfalls eher recht stehenden) Mutter, wage ich es dieses Mal aber dann doch und frage ihn nach seiner Meinung in dieser ganzen Sache hier. Vorweg: er ist kein ungebildeter Bild-Leser, sondern studiert (BWL, was sonst?) und ich unterstelle ihm eine gewisse Intelligenz.
Zunächst einmal sieht er die Westbank nicht als besetztes Gebiet, sondern als Israel an. Die Begründung ist erstaunlich: “Die Palästinenser als Volk haben nie existiert (sie waren eher ein Zusammenschluss von Stämmen oder so), demzufolge haben sie auch kein Land.” Oooooookay….. mir war nicht bewusst, dass die Existenz der Palästinenser in Frage steht! Wieder ein Stück komplizierter.
Allgemein ziehe ich aus dem Gespräch mit ihm die Schlussfolgerung, dass er und wahrscheinlich viele andere rechts stehende Israelis nicht wirklich viel über die Situation wissen. Dass die PLO Israels Existenzrecht anerkannt hat, weiß er nicht (dabei haben Jassir Arafat und zwei israelische Politiker sogar einen Friedensnobelpreis dafür bekommen!) und wenn er Siedlungen meint, spricht er einfach von Städten – er differenziert überhaupt nicht. Er erwähnt das Problem, dass palästinensische Kinder schon in der Schule zum Hass gegen Juden erzogen werden und führt anti-israelische Schulbücher an – die er natürlich nie gesehen hat.
“Ääääääh, ich will dir ja nicht auf die Füße treten”, versuche ich möglichst diplomatisch zu formulieren, “aber woher beziehst du deine Information? Sprichst du mit Leuten, auch mit Palästinensern oder sind das Infos aus den Medien?” Da gibt er zu, dass er alles nur den Medien entnimmt – den israelischen natürlich, noch nicht einmal internationalen. “Hast du dich denn schon mal mit einem Palästinenser unterhalten?” – “Nein, noch nie”. Nach ein paar Ausflüchten (ich würde ja, aber ich hab keine Zeit) gibt er dann zu, dass er daran auch überhaupt kein Interesse hat. Gar keins. Null.
Er führt auch das typisch rechte Argument der Sicherheit an: wir müssen uns und unser Land gegen die Aggressionen der Araber schützen. Dass es vielleicht nicht immer die Palästinenser sind, die aggressiv sind und dass es sich womöglich um eine Reaktion auf die israelische Politik handelt, sieht er natürlich nicht.
Für mich persönlich war es verwirrend festzustellen, dass er trotz dieser seltsamen Auffassung ganz nett war. Ich kann ja politische Einstellung immer so schlecht von Persönlichkeit trennen, weil sie eben doch so viel darüber aussagt… Naja, wieder ein bisschen verwirrter – das war ja mein Ziel hier
Krass finde ich, dass er noch nie mit einem Palästinenser gesprochen hat. Sie leben zusammen in einer Stadt!!!! Aber das ist nicht untypisch und mittlerweile bin ich auch sicher, dass das von der israelischen Regierung so gewollt wird. Dafür spricht zum Beispiel, dass die israelischen Behörden (nicht die palästinensischen) Israelis große Probleme machen, wenn sie in die Westbank reisen. “Warum warst du da, was hast du da gemacht, wen hast du getroffen, wen kennst du,…?”). Deshalb war Tali auch nervös, als wir ins Flüchtlingslager gefahren sind, weil nämlich ein israelischer Freund von Talis Freund bei seiner Rückreise nach Jerusalem 1000 Fragen beantworten musste.
Sowohl Tali als auch unser Tour-Guide gehen davon aus, dass die wenigsten Israelis wissen, was in Jerusalem und in der Westbank wirklich passiert. In den israelischen Medien findet man natürlich nicht viel dazu und die alternativen Medien bemühen wenige. Talis Cousin zum Beispiel würde nichts glauben, was dort steht.
Voller neuer Infos, Eindrücke, Meinungen und Bildern in unseren Köpfen, aufgebracht durch das, was wir gesehen und gehört haben, kamen Tali und ich nach Hause, wo wir noch eeewig redeten und versuchten, den Tag zu verarbeiten. Danach hatte ich echt das Gefühl, ich brauche eine Auszeit, um meine Gedanken zu ordnen, woraufhin ich mich für ein paar Tage aus dem Staub machte und mich in einem Hotelzimmer verbarrikadierte. Und dann fiel mir unser palästinensischer Tour-Guide ein:
“You have the choice. If you want, you can leave. We have to stay here”.
Kürzlich verfasste Kommentare